Verlags- und Imprintgruppe R. G. Fischer
R. G. Fischer Verlag
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Arno Nymus


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Beitrag entnommen aus
Anthologie »Zeilenwende«
Ausgabe 2025








Der kleine Junge und der arme Junge


Ich kannte einmal einen kleinen Jungen. Dieser Junge war Schüler und bekam zweimal im Jahr ein Zeugnis. Immer wenn es so ein Zeugnis gab, wurde es dem kleinen Jungen etwas mulmig. Das lag daran, dass er einen sehr gerechten Vater hatte. Gerecht, d. h. der Vater war zufrieden, wenn sein Sohn gute Noten nach Hause brachte, er äußerte aber auch seine Bedenken, wenn es schlechte Noten gab. Bei guten Zensuren ließ er seinem Sohn eine kleine Anerkennung zukommen. Der kleine Junge bekam etwas Geld und konnte sich dafür etwas kaufen. Und das muss man sagen: Der Vater war nicht geizig, der gab schon ein gutes Taschengeld, vor allem wenn der kleine Junge »Einser« hatte. Und so versuchte der kleine Junge, ein guter Schüler zu sein.
Eigentlich wollte er der beste sein, aber das klappte nicht immer, weil es auch noch andere gute Schüler gab. Im Grunde wollte der kleine Junge nur der beste Sohn von allen sein – wegen seiner Mutter und nicht wegen seines Vaters. Wenn er gute Noten hatte, dann freute sich seine Mutter und lachte oft. Das bedeutete dem kleinen Jungen viel, mehr als das Taschengeld seines Vaters. Und wenn er schlechte Noten hatte, dann konnte es vorkommen, dass seine Mutter weinte. Und das wollte er natürlich nicht. Also strengte der kleine Junge sich sehr an. In jener Zeit damals lud er alle Schuld an schlechten Ergebnissen ganz allein auf sich. Auf die Idee, dass ein Lehrer oder etwas anderes schuld an seinen Zensuren war, kam er nicht. Sein Vater hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er selbst die Verantwortung für seine Noten übernehmen musste. Außerdem kam es ihm selbst ziemlich doof vor, jedes Mal die Schuld für seine schlechten Noten auf andere zu schieben.
In jenen Tagen hatte der kleine Junge einen guten Freund. Aber während der kleine Junge aus einem wohlhabenden Elternhaus stammte, war sein Freund arm. Der Vater des armen Jungen trank viel Alkohol und manchmal schlug er wohl seinen Sohn und vielleicht auch dessen Mutter. Das wollte der kleine Junge aber gar nicht so genau wissen. Er hatte Mitleid mit dem armen Jungen. Dieser hatte oft rot geränderte Augen, und wenn sie gespielt hatten und der arme Junge nach Hause musste, dann nahm er das Fahrrad seiner Mutter – denn Geld für ein eigenes Rad hatte er nicht – und sauste an einem dunklen Wald vorbei. Das sah ziemlich lustig aus, denn weil der arme Junge auch sehr klein war, konnte er sich nicht auf den Sattel von dem großen Fahrrad seiner Mutter setzen. Er stand dann in den Pedalen und raste so schnell er konnte an dem großen dunklen Wald vorbei, bis er nach Hause kam.
Das, was ich euch aber eigentlich erzählen will, ist, dass der arme Junge keinen Wert auf gute Noten legte, ja Noten schienen ihn überhaupt nicht zu interessieren. Das kam wohl daher, dass sich auch im Elternhaus des Armen niemand für Noten und Zeugnisse interessierte. Wieso auch? Eine Belohnung hätte der arme Junge von seinem Vater nicht erhalten. Und schlechte Zensuren bemerkte sein Vater auch nicht, da er fast nie zu Hause war. Das verstand sein Freund, der kleine Junge, aber nicht. Seiner Meinung nach gehörten ordentliche Noten zu einem ordentlichen Jungen dazu.
So kam es, dass der kleine Junge beschloss, sich von dem armen Jungen abzuwenden und sich andere Freunde zu suchen.
Eines Tages, der kleine Junge war schon gar nicht mehr so klein, sondern gewachsen, lernte er bei einem Surf-Kurs ein nettes Mädchen namens Sandra kennen. Der kleine Junge war begeistert von ihr, er war wie verwandelt. Anfangs machte er einige Späße bei den Trockenübungen am Strand; er warf sich absichtlich zu Boden und tat so, als könne er sich nicht auf seinem Surfbrett halten. Sandra ließ sich so wenigstens ein kleines Lächeln entlocken. Als es dann aber ins Wasser ging, war es gar nicht mehr so lustig; der kleine Junge fiel tatsächlich immer wieder vom Brett hinunter, vor allem, wenn Sandra in seiner Nähe war. Er wurde dann sehr nervös und unsicher und fiel aus allen Lagen ins Wasser. Nicht eine winzige kleine Fahrt auf dem Surfbrett gelang. Er knallte regelmäßig hin. Sandra fand das immer komischer. Sie lachte aber nicht mehr über seine Scherze, sondern über ihn selbst. Das war dem kleinen Jungen sehr peinlich.
Schließlich stand der Tag der Surf-Prüfung bevor und es kam so, wie es kommen musste: Der kleine Junge fiel als einziger durch. Theoretisch hatte er zwar fast alle Aufgaben lösen können, aber der Surflehrer sagte vor der versammelten Mannschaft, dass keiner die Prüfung bestehen könne, wenn er im praktischen Teil nichts draufhabe. Der kleine Junge war vernichtet. Trotzdem nahm er noch einmal all seinen Mut zusammen und ging zu Sandra. Er wollte alles wiedergutmachen, mit einer Einladung auf ein Eis, wollte sie von anderen Qualitäten überzeugen, vielleicht von seinen inneren Werten oder sonstigem. Aber sein Versuch war schnell gescheitert. »Was willst du denn, du Flasche? Hast du nicht gesehen, wie gelassen und aufrecht Mike auf seinem Brett steht? Da hättest du dir mal was abschauen können. Tut mir Leid, aber wer diese kleine dämliche Prüfung nicht mal packt …«
Der kleine Junge wagte Sandra nicht einmal anzuschauen. In diesem Moment hörte er zum ersten Mal in seinem Leben sein Rückgrat knacken – oder bildete er sich das nur ein? In diesem Augenblick begriff er aber auch schlagartig Folgendes: Zeugnisse sind wichtig; sicher, das hatte er jetzt erkannt, denn mit dieser Surf-Bescheinigung hätte er jetzt ganz cool seine Runden hier auf den Wellen drehen können und wäre vielleicht sogar mit Sandra zusammen. Statt seiner würde jetzt wohl Mike diese Rolle übernehmen. Aber er wusste nun auch: Zeugnisse und Noten sagen gar nichts, und zwar absolut gar nichts über den Charakter eines Menschen aus!
Der kleine Junge nahm wieder Kontakt zu dem armen Jungen auf. Sie sprachen sich aus und vertrugen sich wieder. Heute sind die beiden seit einer Ewigkeit gute Freunde. Von Sandra aber hat der kleine Junge, der mittlerweile als großer Junge in einer großen Stadt lebt, nie mehr etwas gehört.






Arno Nymus unterrichtet als Lehrer seit mehr als dreißig Jahren an Gymnasien in und um München.