Ella Groen

Mairegen

 

 

Resi blickte die Straße entlang. Es dämmerte bereits und nun, da die Sonne hinter dicken und unheilvoll grau-schweren Wolken verschwunden war, wurde es auch noch kalt. Sie seufzte. Warum dauerte es heute bloß so lange? Er hätte schon längst auf dem Moped die Straße entlangknattern müssen. Resi schob eine Hand in die Jackentasche. Mit der anderen umklammerte sie die Bonbontüte. 50 Pfennig hatte sie für die bunte Tüte bezahlt. Dabei war sie immer darauf bedacht, sparsam mit ihrem Taschengeld umzugehen. Doch sie hatte einfach nicht an den bunten Plastikboxen des Büdchens vorbeigehen können. Tagelang hatte Resi sich die Leckereien eingeteilt und die Tüte vor ihren Brüdern unter der Matratze versteckt. Damit der süßliche Geruch sie nicht verriet, hatte sie die Tüte zusätzlich in einen dicken Wollstrumpf gewickelt. Nun war nur noch ein Bonbon übrig.
Die Straßenlaterne sprang mit einem leisen Surren an. Jetzt wurde es aber wirklich Zeit! Resi sprang von der Bank der Bushaltestelle. Die Kälte kroch ihr langsam in die Knochen. Unruhig hüpfte sie von einem Bein auf das andere. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Eltern sich ihretwegen stritten. Vati war diesmal sogar richtig laut geworden. Resi dachte an den vernichtenden Blick ihrer Mutter, als Vati sie in Schutz nahm, das Gespräch kurzerhand für beendet erklärte und ihr im Vorbeigehen den Kopf tätschelte. Schon lange hatte sich niemand mehr für sie eingesetzt. Sie war nicht nur einer ordentlichen Tracht entgangen, sondern hatte sich auch noch Vatis Stolz verdient.
„Mädchen schlagen sich nicht, schon gar nicht mit Bengeln“, hatte Mutti mit Nachdruck in Vatis Rücken geflüstert. Resi sah das anders. Sie wollte sich nicht alles gefallen lassen, sich klein und wehrlos fühlen. Viel zu oft hatte sie die Hänseleien der anderen ertragen. Gemäß ihrer Erziehung: Schlägt dir einer auf die linke Wange, halte ihm auch die rechte hin. Doch beim letzten Mal war Paul zu weit gegangen. Schon auf dem Pausenhof hatte er sie ausgelacht und laut gefragt, ob sie farbenblind sei. Eine lila Hose trage man nicht zu einem grünen Pullover. Dabei hatte er mit den Armen Flügel geformt und einen Papagei nachgeahmt. Auf dem Heimweg hatte er sie dann in einen Busch geschubst. Dabei verfing sich ein Zweig im Ärmel ihres Pullovers und riss ein Loch hinein. Das hatte Resi nun wirklich nicht auf sich sitzenlassen können.
Mit lautem Gebrüll stürzte sie auf Paul zu, presste mit aller Kraft ihre Handflächen gegen seinen Brustkorb und schubste ihn so fest, dass er auf den Hintern fiel. Für einen kurzen Augenblick starrte Paul sie verdutzt an. Dann sprang er auf die Beine und ehe es sich Resi anders überlegen konnte, steckte sie in einer handfesten Schlägerei mit diesem Großmaul. Sie hatte ordentlich eingesteckt, aber auch ausgeteilt und am Ende war sie es, die mit einem gut platzierten Schlag den Kampf für sich entschied.
Anschließend war sie mit hämmerndem Herzen nach Hause gerannt. Da ihr für die dreckverschmierten Klamotten und den unschönen Kratzern auf der Wange keine Ausrede einfiel, sagte sie kurzerhand die Wahrheit. Wie schockiert Mutti war. Sie hatte von Vati sofort eine züchtige Strafe verlangt, damit seine Tochter nicht noch einmal in aller Öffentlichkeit vergesse, wie sich ein Mädchen zu betragen habe. Doch ihr Vater hatte einfach gelacht, gefragt, ob sie gewonnen habe und ihr anschließend anerkennend auf die Schulter geklopft. Auch ein Mädchen muss sich wehren können, war seine Antwort. Resi hatte ihn nie mehr geliebt als in diesem Moment.
Ungeduldig lief sie im Lichtkegel der Laterne umher, die Bonbontüte in der Hand balancierend. Sie würde warten, egal, wie lange es noch dauerte. Sollte sich Mutti ruhig Sorgen machen, wo sie so spät noch steckte. Jeden Tag wartete sie an der Bushalte darauf, dass Vati von der Arbeit nach Hause kam. Dann setzte er ihr stets den Helm auf, hob sie aufs Moped und schob sie den Rest des Weges. Erneut spähte Resi die Straße entlang. Sie schirmte die Augen mit der freien Hand ab. Plötzlich spürte sie nasse Tropfen auf der Haut. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Wolken. Immer dickere Tropfen prasselten auf ihren Schopf, rannen über ihr Gesicht.
Gerade als Resi wieder unter das Vordach der Bushaltestelle schlüpfen wollte, hörte sie das Knattern eines Mopeds. Sie wandte sich der Richtung des Geräusches zu und erblickte Vati. Wie immer stellte sie sicher, dass niemand sonst ihren Weg kreuzte, dann stellte sie sich mitten auf die Straße, Vati in den Weg. Quietschend kam das Moped zum Stehen.
„Was machst du denn noch hier? Es ist bereits dunkel.“
„Dich abholen. Wie jeden Tag“, antwortete Resi. Ihr Vater schüttelte den Kopf, stieg vom Moped und hob Resi herauf. Das Leder war angenehm warm. Dann nahm er den Helm ab und drückte ihn seiner Tochter auf das nasse Haar.
„Warte.“ Resi legte eine Hand auf die ihres Vaters. Mit der anderen reichte sie ihm die Tüte. „Für dich.“ Sie sah, wie ihr Vater in die Tüte griff und den grünen Brauseball herausholte, den sie bis zum Schluss aufbewahrt hatte. Ihre Brüder belehrten sie immer wieder, dass die guten Bonbons zuerst zu vernaschen seien, damit man nicht in die Lage komme, sie mit anderen teilen zu müssen. Doch Resi konnte nicht anders, sie bewahrte sich das Beste stets bis zum Schluss. Diesmal gab sie den Brauseball von Herzen gerne ab. Als Zeichen der Dankbarkeit und Liebe, denn Vati offen zu sagen, wie sie fühlte, wagte sie nicht. Über Gefühle sprach man nicht.
„Wofür habe ich das verdient?“
Resi zuckte mit den Schultern. „Einfach so“, erwiderte sie und grinste, als ihr Vater die Kugel im Mund verschwinden ließ. Er zerknüllte die Tüte und steckte sie in die Tasche seiner Jacke. Dann zwinkerte er Resi zu, klappte das Visier herunter und schob den Roller die letzten Meter nach Hause. Resi hörte die Regentropfen auf den Helm trommeln. Versteckt hinter dem Visier verzog sie die Lippen zu einem breiten Grinsen und genoss das Gefühl der Verbundenheit, das sie in diesem Moment verspürte.